Cover
Titel
Culture from the Slums. Punk Rock in East and West Germany


Autor(en)
Hayton, Jeff
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 364 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Siebengartner, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Zu Beginn des Jahres 1978 widmete der „Spiegel“ dem Punk eine Titelgeschichte, die das noch relativ junge Phänomen unter der reißerischen Überschrift „Kultur aus den Slums: brutal und häßlich“ auf den Punkt zu bringen versuchte.1 Diesen grellen Haupttitel borgt sich der Historiker Jeff Hayton für seine Monographie zu Punk in den beiden deutschen Staaten in den späten 1970er- und 1980er-Jahren, die auf seiner 2013 an der University of Illinois at Urbana-Champaign angenommenen Dissertation basiert. Hayton übernimmt den pejorativen Begriff des „Slums“, weil er für ihn eine abweichende Haltung gegenüber einer Mehrheitsgesellschaft ausdrückt und für eine gewisse Authentizität steht, die er den Punks und dem weiterem alternativen Milieu zuschreibt. Die Suche nach Individualität und Echtheit („genuineness“) sowie die Differenz zum bürgerlichen Mainstream waren laut Hayton Merkmale, die Punks, Hippies, Hausbesetzer:innen, Ökos und weitere dezidiert Andersdenkende miteinander teilten. Dass diese Authentizitätsbestrebungen alles andere als stabil waren, betont er ebenso. Ob Punks als Teil des alternativen Milieus betrachtet werden können, ist unter Historiker:innen umstritten; mit guten Gründen wurde auch schon dagegen argumentiert.2 Hayton dagegen beschäftigt sich mit Punk als alternativer Lebensform und stellt in dieser Weise die Selbstentwürfe der Punks in den Kontext der allgemeineren Geschichte der BRD und der DDR.

In den ersten beiden Kapiteln werden die beiden deutschen Staaten miteinander verglichen; die darauffolgenden Kapitel behandeln im Wechsel je einen der beiden Staaten. Dabei benutzt Hayton unterschiedliche Quellen. Für die Bundesrepublik erschließt er Selbstzeugnisse und graue Literatur (darunter die sog. Fanzines), mediale und staatliche Quellen. Bei der DDR beschränkt er sich weitgehend auf staatliche Dokumente, vor allem auf Material der Staatssicherheit. Dieses Ungleichgewicht und die daraus resultierende „Stimmlosigkeit“ der DDR-Punks reflektiert er in der Einleitung. Der unterschiedlichen Quellenlage ist wohl auch geschuldet, dass die Kapitel zur DDR sich wesentlich um Ereignisse und Entwicklungen im Zusammenhang mit der Stasi drehen, wohingegen für die Bundesrepublik öfter szeneinterne Entwicklungen Thema sind.

Auf unterschiedliche Ausgangslagen im kapitalistischen Westen und staatssozialistischem Osten geht Hayton in den beiden ersten Kapiteln ein. Zentral hierbei ist, dass Massenmedien in beiden Fällen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung in beiden deutschen Staaten spielten. Etwas unklar bleibt der behandelte Zeitraum. Bezogen auf die Bundesrepublik geht Hayton bis Mitte der 1980er-Jahre, während die DDR bis Ende der 1980er-Jahre behandelt wird.

Für die Bundesrepublik hebt Hayton die Stellung des Konzertveranstalters und Sounds-Journalisten Alfred Hilsberg hervor. Durch dessen Tätigkeiten sei eine Art nationale Aneignung des britischen und amerikanischen Punk möglich geworden. Auf den drei von ihm 1979 in der Hamburger Markthalle organisierten Konzertabenden kam es jedoch auch zu einer Spaltung der Punkszene. Hayton positioniert die experimentelleren Kunstpunks gegen die auf Gitarrenmusik fixierten Hardcore-Punks. Als die deutsche Musikindustrie unter dem Namen Neue Deutsche Welle begann, aus dem Punk kommende deutschsprachige Musik zu vermarkten, was mitunter zu Chart-Erfolgen führte, verlor Punk seinen individualistischen Gestus in der BRD. Dieser Verlust führte bei den Hardcore-Punks zu einer stärkeren Betonung der Gemeinschaft anstelle des Individuums, so Hayton. Die Hardcore-Punks waren in seiner Lesart wesentlich politisierter, was sich unter anderem in der Teilnahme an Straßengewalt und aktivem Engagement gegen Rechtsextremismus ausdrückte. Mit dem Fun-Punk der Düsseldorfer Band Die Toten Hosen sei deutscher Punk schließlich im Mainstream angekommen. In der DDR sei es hingegen wesentlich schwieriger gewesen, selbst Musik zu produzieren und sich als Individuum zu gerieren sowie als Szene zu organisieren.

Über den deutsch-deutschen Vergleich hinausgehend, analysiert Hayton Grenzüberschreitungen des Punk zwischen Ost und West. Er zeigt, wie Ost-Punks den Überwachungsapparat der Stasi immer wieder unterliefen, indem sie beispielweise in bundesdeutschen Fanzines Auskunft über ihre Erfahrungen jenseits der Mauer gaben. Durch diese Kontakte war es ebenso möglich, dass Platten von DDR-Bands in Westdeutschland erscheinen konnten. Umgekehrt gelangten neben Fanzines aus der BRD auch Erzeugnisse aus den USA, Großbritannien und vielen weiteren Ländern in die DDR. Hier wird deutlich, dass diese Geschichte weit über die beiden deutschen Staaten hinausreicht. Neben einer verflochtenen deutsch-deutschen Geschichte waren transnationale Austauschbeziehungen von großer Bedeutung. Ab August 1983 ging der Staat unter der Losung „Härte gegen Punk“ gezielter gegen Jugendliche, die als Punks identifiziert werden konnten, vor. Einen Unterschlupf fanden einige von ihnen in den Kirchen des Landes, wo sie mit anderen Dissident:innen Freiräume jenseits des staatlich organisierten Lebens nutzen konnten. Gegen Ende der 1980er-Jahre gab es auch Versuche, neue, dem Punk nahestehende Bands in der offiziellen Kulturpolitik zu berücksichtigen. Diese Bands sind weitestgehend nicht in der Erinnerungskultur von DDR-Punk berücksichtigt. Das sind einige Entwicklungslinien, die Hayton aufmacht.

Aufgrund der abwechselnden Behandlung von BRD und DDR in den Kapiteln 3 bis 8 ist es etwas schwierig, den Entwicklungen in beiden deutschen Staaten zu folgen. Bei dieser Art der Gliederung wäre es hilfreich gewesen, die zentralen Ergebnisse nochmals in einem abschließenden Fazit zu bündeln. Stattdessen endet die Studie mit einem Epilog zur Erinnerungskultur in Bezug auf Punk in der wiedervereinigten Bundesrepublik bis in unsere Gegenwart.

Hayton bietet stellenweise eine sehr differenzierte Lesart des Punk in den beiden Deutschlands, die den alternativen Akteur:innen Handlungsmacht zugesteht. Überzeugend kontextualisiert er beispielsweise die Diskussionen, die sich um das „punk problem“ in verschiedenen Städten und Gemeinden der alten Bundesrepublik entzündeten. Hier wird deutlich, wie Punks durch ihr bloßes Erscheinen in Innenstädten schon ein Störfaktor waren. Doch die Studie hat auch ihre Schwächen. Bei aller Quellenvielfalt in Bezug auf die Bundesrepublik verlässt Hayton sich doch auffallend oft auf Jürgen Teipels Verschwende Deine Jugend.3 Erst im Epilog denkt er über den Stellenwert dieser zentralen Publikation, die die bundesdeutsche Erinnerung an Punk bis heute prägt, und anderer autobiographischer Titel nach. „Indeed, my own narrative partially reproduces this chronology, if pointing to perhaps different causes and arriving at potentially different conclusions.” (S. 300) Diese Einsicht hätte der Einleitung gutgetan. Dann wäre womöglich die harsche Grenzziehung Kunst-/Hardcore-Punks, die schon bei Hilsberg und auch bei Teipel zu finden ist, bei Hayton nuancierter ausgefallen. So verpasst es Hayton, in diesem Punkt die Kanonisierung des bundesdeutschen Punk zu hinterfragen.4

Abgesehen davon finden sich stellenweise Ungenauigkeiten, die zu fragwürdigen Interpretationen führen. So setzt er Fanzines meist als Belege für bestimmte Sachverhalte ein, ohne direkt daraus zu zitieren. Eine Überprüfung der genauen Wortlaute führt aber dann zu einem anderen Ergebnis. Zur Tanzpraxis unter bundesdeutschen Punks beispielsweise schreibt Hayton, dass seit den frühen 1980er-Jahren der aus dem amerikanischen Hardcore-Punk stammende „slam-dance“ anstatt des englischen Pogo getanzt wurde. Ein Blick in die zitierten Quellen offenbart aber, dass der amerikanische Terminus, wenn überhaupt, erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre verwendet wurde.5 Hayton überträgt demnach amerikanische Entwicklungen auf die Bundesrepublik, die so noch nicht stattgefunden hatten.

Insgesamt bietet Haytons Studie einen soliden Überblick über die kulturelle, soziale und politische Bedeutung von Punk in beiden deutschen Staaten. Für die Bundesrepublik ist die vielseitige Quellenauswahl hervorzuheben. Die Behandlung des Transfers von Punk über die Mauer hinweg sowie der vielfältigen Austauschprozesse sind ebenfalls zu den Stärken des Buches zu zählen. Stellenweise erscheinen Entwicklungen allerdings zu pauschal oder zugespitzt interpretiert. Nichtsdestotrotz legt diese dezidiert historische argumentierende Studie ein Fundament für eine Kultur- und Zeitgeschichte der 1980er-Jahre, die jugendkulturelle Entwicklungen und mediale Popphänomene als integrale Bestandteile ernst nimmt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Der Spiegel 4 (1978), S. 1.
2 Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 36–37.
3 Vgl. Jürgen Teipel, Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt am Main 2001.
4 Ein ähnliches Vorgehen attestiert ihm Florian Lipp, auf Haytons Dissertation verweisend, in Bezug auf die DDR. Vgl. Florian Lipp, Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR. Akteure – Konfliktfelder – musikalische Praxis, Münster 2021, S. 28.
5 Das deckt sich ebenso mit den Ergebnissen des Musikwissenschaftlers Dirk Budde, der das Jahr 1985 als Zeitpunkt des Auftauchens des „Slammens“ in der Bundesrepublik markiert. Vgl. Dirk Budde, Take Three Chords... Punkrock und die Entwicklung zum American Hardcore, Karben 1997, S. 124–130.

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